Fragwürdige Studie: Schweiz mit Neonicotinoiden verseucht?
Forscher konnten Spuren von Neonicotinoid-Pflanzenschutzmitteln in der Schweizer Umwelt nachweisen. Überzeugende Belege für die behaupteten Gefahren blieben sie jedoch schuldig.
Am 30. März 2019 erschien ein Artikel von Forscherinnen und Forschern der Universität Neuchâtel und der Vogelwarte Sempach in der Fachzeitschrift «Journal of Applied Ecology», in dem sie die Analyse von Boden-und Pflanzenproben aus der Schweizer Landwirtschaft beschrieben. Eine Woche danach griffen die Massenmedien das Thema auf. Ein Grossteil der Bio-Äcker sei mit Pestiziden «verseucht» war da zu lesen, Bio Suisse bezeichnete die Nachricht als «erschreckend». Wieder einmal griff Verunsicherung um sich. Was genau war geschehen?
Das Forscherteam unter der Leitung von Assistenzprofessor Fabrice Helfenstein, mit der Doktorandin Ségolène Humann-Guilleminot als Erst-Autorin, hatte Proben von 169 Feldern und ökologischen Ausgleichsflächen aus der ganzen Schweiz genommen. Dabei wurden Landwirtschafts-Betriebe mit konventioneller, IP- und Bio-Produktion untersucht. Mit extrem empfindlichen Messmethoden wurden Boden- und Pflanzenproben auf das Vorkommen von fünf Insektiziden aus der Klasse der Neonicotinoide untersucht. Dabei zeigte sich, dass in sämtlichen Proben von konventionellen und IP-Höfen mindestens ein Neonicotinoid nachgewiesen werden konnte, aber auch dort wo eine Anwendung dieser Insektizide gar nicht erlaubt wäre: in 93% der Proben von Bio-Höfen und in mehr als 80% der Proben von den ökologischen Ausgleichsflächen. Die Forscher schliessen aus ihren Resultaten, dass Insekten und Regenwürmer auf den Feldern, aber auch auf den nicht bewirtschafteten Ausgleichsflächen, verbreitet gefährlichen oder gar tödlichen Mengen der Pestizide ausgesetzt seien.
Das klingt in der Tat besorgniserregend: eine flächendeckende Kontamination der Schweizer Landwirtschaft durch Neonicotinoide, wohin die Forscher auch blickten. Selbst in Bio-Saatgut fanden sie die Agro-Chemikalien. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sie in der öffentlich direkt zugänglichen Zusammenfassung ihrer Arbeit («Abstract») zwar die Allgegenwart der Neonicotinoide anprangern, aber kein Wort über die von ihnen gefundenen Mengen berichten. Diese wichtigen Informationen sind im Hauptteil ihrer Arbeit enthalten, der aber nur für Mitarbeiter von Forschungsinstituten zugänglich ist welche die Fachzeitschrift abonniert haben, oder gegen Bezahlung. Nur ein kleiner Kreis von Experten wird sich daher mit den Details der Forschungsarbeit beschäftigen, die wenigsten Journalisten werden sich diese Mühe gemacht haben.
Die Forscher verwendeten für ihre Umwelt-Analysen das aussergewöhnlich empfindliche Nachweisverfahren UHPLC-MS/MS. Damit konnten sie nach eigenen Aussagen Neonicotinoid-Spuren bis hinab zu 0.0009 ppb in ihren Proben mengenmässig erfassen. Bei einem Gramm Bodenmaterial bedeutet das die Messung von einem Tausendstel eines Milliardstel Gramms – eine unfassbar kleine Menge.
Die Empfindlichkeit der Analyseverfahren würde den Nachweis von einem Liter einer Substanz im Bielersee erlauben
Bei gleicher Empfindlichkeit wäre zum Beispiel die Messung von einem Liter einer Substanz möglich, die gleichmässig in der Gesamt-Wassermenge des Bielersees (Volumen: 1,12 km³) aufgelöst würde. Oder die Messung eines einzelnen Millimeters, auf einer Gesamtstrecke des zweieinhalb-fachen Erdumfangs. Da Neonicotinoide aufgrund ihrer guten Wirksamkeit verbreitet eingesetzt wurden ist es nicht verwunderlich, dass sie mit den hoch empfindlichen Messverfahren auch in der Umwelt nachgewiesen werden können. Die höchste in einer Probe aus der konventionellen Landwirtschaft gefundene Neonicotinoid-Konzentration lag unter 30 ppb (Summe aller fünf untersuchter Substanzen), der Median-Wert aller konventionellen Äcker lag bei 3.58 ppb (Milliardstel Anteile).
Durch Abschwemmung oder Verwehung können Neonicotinoide in Spuren auch auf Flächen gelangen, die nicht gezielt damit behandelt wurden, wie Bio-Äcker oder ökologische Ausgleichsflächen – dort lagen die gefundenen Mengen in der Regel deutlich tiefer. Das Bundesamt für Landwirtschaft beurteilt daher die in der Studie gemessenen Insektizid-Konzentrationen im Rahmen der Risiko-Bewertung als annehmbar.
Der Nachweis einer Substanz alleine gibt noch kein Hinweis auf ein mögliches Risiko in der Umwelt. Um darüber Aussagen machen zu können, muss untersucht werden ob die Chemikalien mit Lebewesen in Kontakt kommen, von diesen aufgenommen werden, und in den geringen beobachteten Mengen überhaupt Auswirkungen haben. Um die Bedeutung ihrer Befunde zu unterstreichen, vergleichen die Forscher daher die von ihnen in der Umwelt beobachteten Neonicotinoid-Konzentrationen mit Literaturangaben zur Giftigkeit der Substanzen für 84 Arten von Insekten, anderen Arthropoden, und Regenwürmern. Sie gehen dabei von veröffentlichten LC50-Werten aus, Umwelt-Konzentrationen die in Tierversuchen bei 50% der Individuen zum Tod führen. Sie legen ohne weitere experimentelle Überprüfung willkürlich fest, dass ein hunderstel dieses Literaturwerts wohl zu toxischen Schädigungen der Organismen führt, und schliessen darauf aufbauend, dass etwa 30% – 40% der Arten auf konventionellen oder IP-Feldern toxischen Neonicotinoid-Konzentrationen ausgesetzt seien, zwischen 5% und 8% der Arten sogar tödlichen Konzentrationen.
Dieser Ansatz vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zwar ist es sicher möglich und in Einzelfällen auch beschrieben, dass Konzentrationen von einem Hundertstel der LC50 bereits Schäden auslösen können, das kann aber nicht pauschal angenommen werden. Ein anschauliches Beispiel: aus toxikologischen Untersuchungen beim Menschen ist bekannt, dass der rasche Konsum von 118 Tassen Kaffee aufgrund der enthaltenen Koffeinmenge die Hälfte der Konsumierenden wahrscheinlich töten würde. Kaum jemand hätte wohl aber beim Konsum von einer oder zwei Tassen (einem Hundertstel der tödlichen Dosis) Bedenken vor einer Vergiftung.
…über 100 Tassen Kaffee auf ein Mal können tödlich sein – bei ein bis zwei Tassen besteht jedoch noch keine Gefahr.
Desweiteren können die von den Autoren verwendeten Literaturangaben zu den LC50-Werten nicht ohne Weiteres auf die von ihnen gemessenen Werte in der Umwelt übertragen werden. So wurden zum Beispiel Honigbienen von den Autoren als gefährdet eingestuft, aufgrund der von ihnen gemessenen Konzentration des Wirkstoffs Clothianidin in Blattproben von IP Suisse- und konventionellen Feldern. Der aus der Literatur angenommene LC50-Wert für Honigbienen (104 ppb) wurde jedoch durch Fütterung von Bienen mit einer Zuckerlösung ermittelt, welcher das Insektizid zugesetzt war (Spurgeon et al., 2016). Da Bienen jedoch keine Blätter fressen, kann der Literaturwert nicht direkt auf die Feldsituation übertragen werden – so bleibt es ist fraglich, ob Bienen tatsächlich schädliche Mengen an Clothianidin in der Umwelt aufnehmen würden. Auch in anderen Fällen ist der verwendete LC50-Literauturwert nicht auf die Situation auf dem Feld übertragbar, die Daten ermöglichen in diesen Fällen keine Aussage zu einer möglichen Gefährdung. Der Behauptung der Autoren, dass mehreren Arten durch allgegenwärtige Neonicotinoide in der Schweiz Gefahren drohen, fehlt eine solide Grundlage, hier wären weitere experimentelle Belege erforderlich.
Mit ihrer Forderung, den Einsatz von Neonicotinoiden einzuschränken, laufen die Autoren übrigens offene Türen ein: Bereits im Jahr 2013 wurde in der EU und in der Schweiz die Verwendung von Imidacloprid, Clothianidin und Thiametoxam als Saatgut-Beizmittel für Raps und Mais verboten, aufgrund von nicht klar bewiesenen, aber möglichen Risiken für Bienen. Seit 2018 sind alle Anwendungen dieser Substanzen im Freiland nicht mehr erlaubt. Die beiden anderen in der Studie untersuchten Neonicotinoide (Thiacloprid und Acetamiprid) sind weiterhin in der Schweiz für die Anwendung auch im Freiland zugelassen, sie gelten als nicht persistent und rasch abbaubar.
Kurz nach der Publikation des Forscherteams von der Uni Neuchâtel und der Vogelwarte Sempach meldete sich auch die staatliche Forschungsanstalt Agroscope mit einer Medienmitteilung zu Wort, und wies darauf hin, dass sich Agroscope -Forschende befassen seit Jahren intensiv mit vielen Aspekten von Pflanzenschutzmitteln befassen: mit ihrem Einsatz, ihrer Wirkung, ihrer Verbreitung, ihren unerwünschten Auswirkungen und ihren Rückständen im Boden und in den Pflanzen. 2018 wurde ein neues Forschungsprogramm gestartet. Dabei werden Rückstände von über 40 Pflanzenschutzmitteln in über 100 verschiedenen Böden und landwirtschaftlichen Systemen gemessen und deren Auswirkungen auf Bodenlebewesen wie auch die Bodenfunktionen analysiert. Dabei werden diese nicht in Laborstudien, sondern in realen Systemen untersucht, um die realen Risiken zu ermitteln. Agroscope weist darauf hin, dass die Auswirkungen von Bodenbearbeitung, Düngung und Anbau einer Monokultur meist einen viel grösseren Einfluss auf die Bodenbiologie haben als Spuren von Pflanzenschutzmitteln. Die Beurteilung der positiven und negativen Wirkungen von Pflanzenschutzmitteln sollte dabei umfassend sein und im Kontext der landwirtschaftlichen Produktion erfolgen.
Weitere Informationen:
- Ségolène Humann‐Guilleminot et al. 2019, A nation‐wide survey of neonicotinoid insecticides in agricultural land with implications for agri‐environment schemes, Journal of Applied Ecology (doi:10.1111/1365‐2664.13392)
- 93 Prozent der Bio-Äcker sind mit Pestiziden verseucht, Blick.ch, 07.04.2019
- Pestizidstudie rennt offene Türen ein, BauernZeitung, 08.04.2019
- Agroscope untersucht Rückstände von Pestiziden, Agroscope Medienmitteilung, 11.04.2019