Krebskranke Kinder werden für Agrar-Initiativen instrumentalisiert
«Pestizid-Rückstände im Gehirnwasser von Kindern»: solche und ähnliche Schlagzeilen sollen kurz vor der Abstimmung die Wende bei den Agrar-Initiativen bringen. Dahinter steht eine wissenschaftlich und ethisch fragwürdige Kampagne, die Emotionen missbraucht statt sachlich zu bleiben.
Kurz vor der Volksabstimmung am 13. Juni 2021 über die beiden extremen Agrar-Initiativen, die massive Einschränkungen oder Verbote für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln anstreben, wird der Abstimmungskampf zunehmend mit Emotionen statt mit Fakten geführt.
Neuerliches Beispiel: Rückstände von Pflanzenschutz-Wirkstoffen in den Gehirnen krebskranker Kinder. Dabei schüren die Initianten die Furcht vor möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der Wirkstoffe. Gezielt wurden die Resultate einer vorläufigen Studie gestreut, die bisher weder in einer anerkannten Fachzeitschrift veröffentlicht noch von Experten begutachtet wurde.
Ärzte des Lausanner Universitätsspitals CHUV und des Neuenburger Spitals unter Leitung von Dr. Bernard Laubscher, Leiter der Abteilung für Kinderheilkunde, hatten bei insgesamt 14 an Leukämie oder Lymphomen erkrankten Kindern (mittleres Alter 8 Jahre) Proben der Cerebrospinalflüssigkeit (Gehirnwasser) entnommen, und mit hochempfindlichen Verfahren auf das Vorhandensein von Wirkstoffen aus der Gruppe der Neonicotinoide untersuchen lassen. Tatsächlich fanden sie winzige Spuren einzelner Substanzen – allerdings in Konzentrationen, die weit unter den Mengen liegen, deren tägliche Aufnahme mit der Nahrung von Experten und den Behörden als schädlich beurteilt werden.
Für alle zugelassenen Pflanzenschutz-Wirkstoffe werden aufgrund umfangreicher Versuche und unter Berücksichtigung hoher Sicherheitsmargen im Rahmen des Zulassungsverfahrens gesundheitlich unbedenkliche tägliche Aufnahmemengen und davon abgeleitet Rückstandshöchstgehalte in Lebensmitteln festgelegt. Es gibt keinen Beleg dafür, dass derart geringe Mengen von Pflanzenschutz-Rückständen im Körper schädlich sind. Das wird von den Medizinern selbst auch nicht behauptet.
Allerdings ist es für nicht-Fachleute kein weiter Weg, von der Beobachtung von minimalst vorhandenen chemischen Rückständen in krebskranken Kindern auf einen möglichen Zusammenhang mit ihrer Erkrankung zu schliessen. So meint die grüne Ständerätin Céline Vara in einem parlamentarischen Vorstoss: «Es stellt sich die Frage, ob die unmittelbare Nähe dieser Insektizide zu den Gehirnen leukämiekranker Kinder zur Entstehung dieser Krebsformen beitragen könnte».
Dass gesundheitlich bereits angeschlagene Kinder für ein Polit-Kampagne hinhalten müssen, ist ethisch und moralisch verwerflich. Da der bei den Kindern vorgenommene Eingriff mit einem gewissen Risiko verbunden ist, kann er nur im Rahmen der medizinischen Behandlung bei kranken Kindern gerechtfertigt werden. Die Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit bei gesunden Kindern für den Nachweis von chemischen Rückständen würde nicht akzeptiert. Damit ist kein direkter Vergleich möglich, der Verdacht eines möglichen Zusammenhangs mit der Erkrankung bleibt im Raum stehen.
Die Art und Weise und der Zeitpunkt der Bekanntmachung kurz vor den Abstimmungen zu den beiden extremen Agrarinitiativen sind kein Zufall. Neben den Medizinern werden auch zwei Ökologie-Professoren der Universität Neuenburg als Koautoren der Studie aufgeführt, Alexandre Aebi und Edward A. D. Mitchell.
Beide arbeiten am Labor für Boden-Biodiversität und engagieren sich bereits seit vielen Jahren gegen den Einsatz systemisch wirkender Insektizide. Prof. Mitchell ist zudem Mit-Initiant der Pestizidverbots-Initiative, über die am Sonntag abgestimmt wird. Mit ihrer Beteiligung an Forschungsarbeiten an krebskranken Kindern können sie sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss sein. Die Verknüpfung von für Laien missverständlichen wissenschaftlichen Daten und dem Schicksal schwer kranker Kinder in diesem Zusammenhang ist aber fragwürdig und entlarvt das wahre Gesicht der Autoren.
Weitere Informationen
- Etude: des pesticides décelés proches de cerveaux d’enfants, RTN.ch, 18.05.2021
- Forscher findet Pestizid-Rückstände im Gehirnwasser von Kindern, NZZ am Sonntag, 05.06.2021
- Études épidémiologiques sur la présence de néonicotinoïdes dans le liquide céphalo-rachidien des enfants, Interpellation 21.3612 (Céline Vara), 31.05.2021
- Bernard Laubscher et al. 2021, Multiple Neonicotinoids in Children’s Cerebro-Spinal Fluid, Plasma, and Urine, SSRN preprint, April 2021 (vorläufige Veröffentlichung ohne externe Experten-Begutachtung)