Chemikalien: Laien und Fachpersonen schätzen Risiken unterschiedlich ein

Chemikalien gelten verbreitet als unnatürlich, ungesund oder überhaupt als schädlich. Viele würden gerne ganz darauf verzichten. Das Bauchgefühl von Konsumenten steht dabei im Widerspruch zu der Beurteilung durch die Wissenschaft.
Würden auch Sie lieber in einer Welt ohne chemische Substanzen leben? Damit wären Sie nicht allein: In der Schweiz sowie in sieben anderen europäischen Ländern wünscht dies die Mehrheit der befragten Personen. Dabei verstehen sie unter dem Begriff «Chemikalien» vom Menschen künstlich hergestellte Stoffe, die üblicherweise gefährlich oder gesundheitsschädlich sind. In der Wissenschaft dagegen wird nicht zwischen Chemikalien natürlichen oder künstlichen Ursprungs unterschieden: alle Stoffe können je nach Dosis und und dem Ausmass ihrer Einwirkung schädlich sein. Eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung von Angela Bearth, Rita Saleh und Michael Siegrist vom Lehrstuhl Konsumentenverhalten der ETH Zürich zeigt auf, wie gross die Kluft zwischen Expertenwissen und Bauchgefühl der Bevölkerung ist. Dazu befragten die Forscher über 5000 Personen in acht europäischen Ländern, auch in der Schweiz.
Die Medizin und die Toxikologie untersuchen bereits seit langer Zeit, wie schädliche Substanzen auf den Körper wirken und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Bereits im Jahr 1538 schrieb der berühmte Schweizer Arzt Paracelsus: «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei». Der Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung ist eine zentrale Grundlage der Toxikologie: je geringer die Menge einer Substanz ist, desto geringer sind ihre Auswirkungen. Allerdings halten weniger als eine von vier befragten Personen (23.4%) die – wissenschaftlich korrekte – Aussage «Eine geringe Menge einer toxischen chemischen Substanz in einem Verbraucherprodukt ist nicht unbedingt schädlich» für zutreffend. Sogar weniger als eine Person unter zehn (8.8%) erkennt, dass die Behauptung «Kontakt mit einer giftigen synthetischen Chemikalie ist immer gefährlich, unabhängig vom Ausmass des Kontaktes» wissenschaftlich gesehen unsinnig ist: bei immer kleineren Mengen einer Substanz sinken auch deren möglicherweise schädlichen Wirkungen, bis sie nicht mehr nachweisbar sind.

Kaum jemand fühlt sich fachlich so sicher, wenn es um die Beurteilung von Chemikalien geht – die meisten verlassen sich auf ihr Bauchgefühl
Synthetische Substanzen werden für besonders gefährlich gehalten. Nur 17% der Befragten geben an, dass die (falsche) Behauptung «synthetische chemische Substanzen in Verbraucherprodukten sind die Hauptursache für Allergien bei Menschen» nicht zutrifft, obwohl jeder schon einmal von Erdnuss-, Erdbeer- oder Schalentier-Allergien gehört hat, aber kaum jemand von Allergien gegen künstliche Chemikalien. Eine kleine Minderheit von 14% erkennt die Behauptung «synthetische chemische Substanzen reichern sich stärker im menschlichen Körper an als natürliche chemische Substanzen» als falsch – tatsächlich hängt es von den chemisch-physikalischen Eigenschaften einer Substanz ab, ob sie sich anreichern kann, nicht von ihrer Herkunft. Offenbar werden «synthetischen» Substanzen besondere Eigenschaften zugeschrieben. So unterstützten nur 18% der Befragten die wissenschaftlich korrekte Aussage «die chemische Struktur von synthetisch produziertem Salz (NaCl) ist genau gleich wie die von natürlichem Meersalz». Der Grossteil der Befragten war entweder unsicher oder davon überzeugt, dass es hier einen Unterschied geben muss, und «künstlich» hergestelltes Salz durch die menschliche Mitwirkung bei der Entstehung irgendwie verdorben oder minderwertig sein muss.
Je geringer das Wissen zu den etablierten toxikologischen Grundlagen bei den Befragten war, desto grösser war ihre irrationale, nicht wissenschaftlich begründbare Angst vor Chemikalien (Chemophobie). Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass eine gewisse Kenntnis der Grundzüge der Toxikologie und der Risikobeurteilung für Chemikalien wichtig wäre, um zu verhindern, dass Personen unter unbegründeten Ängsten leiden oder diese weiter verbreiten. Dieses würde auch nicht-Fachpersonen ermöglichen, Nutzen und Risiken von Chemikalien gegeneinander abzuwägen, und faktenbasierte Entscheidungen in Bezug auf Chemikalien zu treffen. Allerdings fehlen Laien oft die Zeit, Motivation und Fachwissen für eine eigene Risikoanalyse, sie verlassen sich daher oft eher auf ihr (nicht immer zutrefendes) Bauchgefühl.
Die fachlich nicht begründete Angst vor «synthetischen» Produkten zeigt sich auch bei der Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide». Diese fordert ein Verbot ausschliesslich für synthetische Pestizide. Dabei ignoriert sie, dass es auch für die Bio-Landwirtschaft zugelassene «natürliche» Pestizide gibt, die giftig, gesundheits- und umweltgefährlich sind, und Bienen oder Wasserlebewesen abtöten können. Im amtlichen Zulassungsverfahren werden alle Pflanzenschutzmittel nach einheitlichen Kriterien beurteilt, unabhängig von der Produktionsweise. Der alleinige Fokus der Volksinitiative auf «synthetische» Pestizide zeigt, dass hinter der Initiative eher weltanschauliche Motive stehen als wissenschaftlich begründbare Tatsachen.
Weitere Informationen
- Angela Bearth, Rita Saleh & Michael Siegrist (2019). Lay-people’s knowledge about toxicology and its principles in eight Europeans countries. Food and Chemical Toxicology, 131