Agroscope: Deutliche Ertragsverluste für die Schweizer Landwirtschaft bei reduziertem Pflanzenschutz
Wieviel Pflanzenschutz brauchen wir, auf was kann man verzichten? Als Entscheidungsgrundlage beurteilen Praktiker die Auswirkungen eines reduzierten Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln für die Schweizer Landwirtschaft. Je nach Kultur und Massnahme wäre mit deutlichen Ertragseinbussen zu rechnen.
Über den Pflanzenschutz wird weiter diskutiert. Im Vorfeld der Abstimmung über die beiden Agrarinitiativen hatte die Ständeratskommission für Wirtschaft und Abgaben die Parlamentarische Initiative 19.475 «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» ausgearbeitet. Diese sollte dem laufenden Aktionsplan Pflanzenschutz durch gesetzliche Bestimmungen mehr Verbindlichkeit verleihen. Sie stellte damit einen inoffiziellen Gegenvorschlag zu den Agrarinitiativen dar. Im Lauf der parlamentarischen Behandlung wurden verschiedene Vorschriften jedoch deutlich verschärft. Diese Woche endete die Vernehmlassung zu einer Reihe von Verordnungen, welche die Umsetzung des Bundesgesetzes über die Verminderung der Risiken durch den Einsatz von Pestiziden konkretisieren. Die vorgeschlagenen Regelungen könnten jedoch problematischere Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben, als die vom Volk abgelehnten Agrar-Initiativen.
Ein wichtiger Baustein der neu vorgeschlagenen Massnahmen ist die Förderung eines Verzichts auf Pflanzenschutzmittel (PSM) in wichtigen Kulturen durch finanzielle Unterstützung mittels Direktzahlungen. Aber wie würde sich das auf die lokale Produktion von Lebensmitteln in der Schweiz auswirken? Bereits 2019 hatten Agroscope-Forschende in ihrer Studie zur Abschätzung der Folgen einer Annahme der Trinkwasser-Initiative aufgezeigt, dass bei einem reduzierten Pflanzenschutz Ertragseinbussen zu erwarten sind. Diese Resultate basierten auf Feldversuchen aus verschiedenen Ländern, und konnten die spezifischen Gegebenheiten der Schweizer Landwirtschaft nur teilweise berücksichtigen. Um dieses Manko auszugleichen, hat Agroscope jetzt eine Delphi-Befragung von 18 Expertinnen und Experten aus der Schweiz durchgeführt, die mit den lokalen Verhältnissen bestens vertraut sind (Möhring et al. 2021). Die Personen stammten von kantonalen Fachstellen, aus Bildung, Beratung, und aus der Forschung. Bei dem mehrstufigen Verfahren wurden unterschiedliche Antworten innerhalb der Expertengruppe diskutiert, um so zu einem Konsens und zu möglichst verlässlichen Abschätzungen zu gelangen.
Dabei wurden folgende, laut den aktuellen Regelungsvorschlägen zu fördernde Anbauverfahren für verschiedene Kulturen beurteilt:
- Ackerbau ohne Insektizide, ohne Fungizide und ohne Halmverkürzungsmittel
- Ackerbau ohne Herbizide
- Ackerbau ohne alle PSM
Ein vollständiger Verzicht auf Pflanzenschutzmittel könnte bei Zuckerrüben die Ernte um 50% reduzieren. Bei Raps wären Einbussen von 40% zu erwarten, bei Kartoffeln, Gerste und Weizen solche von 30%. Dabei wurde von Feldern mit einem mittleren Ertragsniveau ausgegangen. Bei einem hohen Ertragsniveau könnten die Verluste noch grösser sein. Diese Zahlen dokumentieren den grossen Nutzen von Pflanzenschutzmitteln für die landwirtschaftliche Produktivität.
Ein Anbau ohne Insektizide, ohne Fungizide und ohne Halmverkürzungsmittel hätte ähnliche Auswirkungen (Raps, Kartoffeln), für Gerste und Weizen lägen die Einbussen mit etwa 20% etwas niedriger.
Ein Verzicht nur auf Herbizide hätte weniger einschneidende, aber immer noch deutliche Auswirkungen: hier liegen die Mindererträge zwischen 20% (Zuckerrüben, Hülsenfrüchte) und 5% (Sonnenblumen), für die übrigen Kulturen wird ein Ernteverlust von 10% geschätzt. Eine ähnliche Grössenordnung hätten die Ertragseinbussen bei einem Herbizidverzicht für Kulturen im Extenso-Anbau, der bereits heute auf Fungizide, Insektizide und Halmverkürzungsmittel verzichtet.
Deutliche Einschränkungen oder ein Totalverzicht auf Pflanzenschutzmittel könnten daher einen weiteren Rückgang der Inlandproduktion bewirken. Bereits heute führen leicht rückläufige Erträge und eine wachsende Wohnbevölkerung in der Schweiz zu einem immer weiter sinkenden Selbstversorgungsgrad, und zu stetig steigenden Lebensmittel-Importen, wie Agroscope in einer weiteren aktuellen Studie zur Ernährungssicherheit in der Schweiz darlegt (von Ow 2021). Hier bestehen daher Zielkonflikte zwischen Umwelt- und Versorgungszielen bei einem Verzicht auf Pflanzenschutzmittel.
Verschiedene Gegenmassnahmen könnten die Ernte-Einbussen bei einem PSM-Verzicht zumindest teilweise reduzieren, zum Beispiel die Anlage von Nützlingsstreifen an den Feldrändern. Als wichtigste Massnahme gegen einen allzu starken Ertragseinbruch bei reduziertem Pflanzenschutz sehen die Expertinnen und Experten den Einsatz widerstandsfähiger Pflanzensorten. Diese stehen aber noch kaum zur Verfügung. Die Autoren der Agroscope-Studie fordern daher: «Somit sind unbedingt weitere Anstrengungen in Praxis, Beratung und Wissenschaft nötig, um durch innovative Züchtungen Pflanzen resistenter gegen Pflanzenkrankheiten und Schädlinge zu machen».
Weitere Informationen
- Anke Möhring et al. 2021, Naturalertragseinbussen durch Verzicht auf Pflanzenschutzmittel im Ackerbau : Resultate einer Delphi-Studie. Agroscope Science, 125:1-31
- Absenkpfad Pestizide: Experten schätzen ohne zusätzliche Massnahmen z. T. hohe Ertragseinbussen, BauernZeitung, 05.08.2021
- Albert von Ow 2021, Zunehmende Herausforderungen für die Ernährungssicherheit der Schweiz, Agroscope Science 124:1-25
- «Absenkpfad Pflanzenschutzmittel» geht zu weit – Keine nachhaltige regionale Produktion ohne Innovationen, Medienmitteilung scienceindustries Gruppe Agrar, 16.08.2021